Sonntag, 23. Dezember 2012

Meine Weihnachten

Weihnachten steht vor der Tür und zum zweiten Mal in meinem Leben werde ich es nicht in meinem Elternhaus in Bischofszell feiern. Während es letztes Jahr noch ziemlich gewöhnungsbedürftig war, tropische Weihnachten fern von Zuhause zu erleben, hat sich dies mittlerweile geändert. Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass es dieses Jahr wiederum keine Weihnachts-“Guetzli“ geben wird, dass ich keinen Mitternachtsgottesdienst besuchen werde und dass der heilige Abend hier ziemlich sicher keine stille Nacht sein wird. Hier in Bali wird Weihnachten nun halt einfach einmal mit Böllern und Feuerwerk gefeiert – ob ich will oder nicht.

Trotz all dieser Veränderungen blicke ich sehr entspannt auf das kommende Weihnachtsfest. Dies liegt nicht ausschliesslich am Faktor Gewohnheit, sondern auch an meiner neuen Einstellung. Denn als ich mir letztes Jahr Gedanken über die Bedeutung von Weihnachten machte, habe ich „meine“ Weihnachten gefunden. Und da meine Weihnachten eng mit meiner Familie verbunden sind und das Erzählen von Geschichten in meinem Elternhaus seit Jahren zum heiligen Abend gehört, habe ich letztes Jahr für meine Liebsten meine Weihnachtsgeschichte niedergeschrieben. Und diese will ich heute gerne mit Euch teilen:


Nur keine Weihnachtslieder

Kaum ein Anlass hat sich in Davids Augen in den 30 Jahren seines Lebens so verändert, wie Weihnachten. Die frühesten Erinnerungen, die David an Weihnachten hat, sind ein oranges Wigwam, ein weiss-rotes BMX und ein Blick durchs Schlüsselloch auf den Christbaum. Während erstere zwei Geschenke waren, die bei dem Knaben einen bleibenden Eindruck hinterliessen, war das Schlüsselloch eng mit Davids Neugier verbunden. 

Wenn die Stube am Nachmittag des 24. Dezembers jeweils zur Sperrzone für alle Kinder erklärt wurde, da das Christkind den Baum schmücken und die Geschenke bringen müsse, wurde die Stube für den Jungen umso interessanter. Nie hätte er es gewagt, trotz des Verbots in die Stube zu treten und das Christkind bei seiner Arbeit zu stören. Dafür war er schlicht zu gut erzogen. Und zudem zu besorgt, dass es einen negativen Einfuss auf die Grösse und Anzahl seiner Geschenke hätte...

Doch ein Blick durchs Schlüsselloch war einfach zu verlockend für ihn. Nicht nur, weil er sein wichtigstes Gebot – lass Dich nicht erwischen – nicht in Gefahr sah, sondern auch, weil er ja eigentlich nichts Unerlaubtes tat. Seine Mutter hatte ihm nur gesagt, er dürfe die Stube nicht betreten; vom nicht hineinschauen war keine Rede.

Obwohl er sich vor der Türe hin und her bewegte und das Schlüsselloch der alten Türe ihm einen ziemlich guten Einblick in die Stube gewährte, schaffte er es nicht, dass Christkind bei seiner Arbeit zu erwischen. Das einzige, was er sah, waren ein paar Zweige des Christbaums und ein halbes Dutzend roter Kugeln. 

So sehr sich David auch anstrengte, es wollte ihm einfach keine weiteren Erinnerungen an Weihnachten in seiner frühen Kindheit in den Sinn kommen. Dies war für ihn keineswegs ungewöhnlich, denn er erinnerte sich allgemein nicht an viele Dinge aus seiner Kindheit. Er redete sich ein, dass dies keineswegs aussergewöhnlich war. Denn er glaubte, je unbeschwerter eine Kindheit war, desto weniger davon bliebe im Bewusstsein stecken. Dass er sich an kaum etwas erinnerte, musste also ein gutes Zeichen sein.

Wieso aber zerbrach sich David plötzlich den Kopf über seine Beziehung zu Weihnachten? Ganz einfach – weil er das erste Mal selbst für Weihnachten sorgen musste. Denn als sich David nach dreissig Jahren auf das erste Weihnachtsfest ohne seine Familie vorbereitete, merkte er, dass er erst herausfinden musste, was Weihnachten überhaupt war. „Was bedeutet Weihnachten für mich?“ fragte er sich je häufiger, je näher der Festtag rückte.

Bisher war Weihnachten etwas Selbstverständliches für ihn, etwas, das jedes Jahr am gleichen Datum zur gleichen Zeit stattfand. Ausser dem Finden von passenden Geschenken für seine Liebsten und kleinen Hilfeleistungen in der Küche, war Weihnachten für David mit keinerlei Aufwand verbunden. Seine Familie „machte“ ihm Weihnachten. Er konnte sich einfach zurücklehnen und geniessen. Zumindest seit Geschenke nicht mehr der Mittelpunkt von Weihnachten waren und er keine Lieder mehr singen musste.

Als David wohl so gegen 10 Jahre alt war, interessierte ihn an Weihnachten nur eins: Die Geschenke. Obwohl er schon immer eine sehr enge Beziehung zum Essen hatte und man ihm dies schon seit frühester Kindheit ansah, wurde das Weihnachtsessen trotzdem zu einer Tortur für ihn. Da seine Familie den Brauch hatte, an Weihnachten Fondue Chinoise zu essen, konnte es eine gefühlte Ewigkeit dauern, bis das Mahl beendet war. 

Damit David garantiert bereit war, wenn alle anderen satt waren, stopfte er jeweils so viel Fleisch auf seine Chinoise-Gabel, wie diese erlaubte. Er schmeckte das Essen überhaupt nicht, sondern schlang einfach alles so schnell wie möglich herunter. Das einzige, woran er denken konnte, waren seine Geschenke und wie er diese so bald wie möglich auspacken konnte. Hatte er seine Pflicht am Essenstisch getan, sass David ungeduldig in seinem Stuhl und konnte es kaum ertragen, wie seine Familienmitlieder das Essen in aller Gemütlichkeit genossen. 

Seine Ungeduld war so gross, dass er seiner Mutter sogar freiwillig beim Abräumen des Tisches half; etwas Unvorstellbares an einem normalen Werktag. Und dies tat er, obwohl er wusste, dass das Schlimmste noch bevorstand; das Singen von Weihnachtsliedern. 

Wie er dies hasste! Er konnte es nicht ausstehen, gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern Weihnachtslieder zu singen. Nicht nur, weil er ein ziemlich schlechter Sänger war und ihm die Lieder so gar nicht gefielen. Sondern vor allem, weil er es direkt vor dem Christbaum in Anbetracht seiner Geschenke tun musste. Für ihn wurde das Singen so zu einer Folter. Die Objekte seiner Begierde waren in Griffnähe und der heilige Abend hatte bereits begonnen. Dennoch durfte er sich noch nicht auf seine Geschenke stürzen; etwas total Unverständliches und Gemeines in Davids Augen. 

Als David sich nun Gedanken über die Bedeutung von Weihnachten machte und sich an diese heiligen Abende in seiner Kindheit erinnerte, wurde ihm nicht nur klar, woher seine Abneigung fürs Singen kam, sondern auch, wie gegensätzlich seine Auffassung von Weihnachten geworden ist. Im Erwachsenenalter wurde Weihnachten für ihn vor allem ein gemütlicher Abend zu Hause zusammen mit seiner Familie. Gutes Essen, feiner Wein, eine oder zwei Geschichten, Mitternachtsgottesdienst und danach noch eins Trinken gehen mit seinen ehemaligen Schulkameraden. Das war Weihnachten für ihn – glaubte er zumindest...

An dem Tag, als ihm bewusst wurde, dass er solche Weihnachten nur zu Hause in der guten Stube seines Elternhauses feiern konnte, er jedoch während dem vor der Tür stehenden Weihnachtsfest Tausende von Kilometern von seiner Heimat entfernt sein würde, begann er zum ersten Mal nach der wahren Bedeutung von Weihnachten zu suchen. Nach dem Motto „Man lernt etwas erst richtig schätzen, wenn man es nicht mehr hat“, machte er sich auf die Suche nach „seinen“ Weihnachten.

Zuerst dachte er, dass es wohl am besten wäre, wenn er sich auf die Suche nach einem Christbaum machen würde. Ein paar glänzende Kugeln und ein paar Kerzen würden schon helfen, Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Als ihm dann aber klar wurde, dass es sich durchaus schwierig gestalten könnte, im grösstenteils islamischen Indonesien Weihnachtsschmuck zu finden, ganz zu schweigen von einer Tanne, mussten „seine“ Weihnachten einen anderen Mittelpunkt haben.

Dann glaubte er, dass sein indonesischer Freund ihm vielleicht bei der Schaffung „seiner“ Weihnachten helfen könnte. Als er diesen einmal an einem Sonntag treffen wollte, sagte dieser ihm ab, da er sonntags jeweils in die Kirche gehe. So wäre es doch durchaus möglich, dass auch in Indonesien ein Mitternachtsgottesdienst stattfindet, dachte sich David. Als er schon im Begriff war, seinen Freund anzurufen und nachzufragen, merkte er, dass ihn diese Lösung nicht befriedigte. Ein Gottesdienst alleine konnte unmöglich „seine“ Weihnachten sein. Und schon gar nicht, wenn er während der Messe nur wenige Worte verstehen würde.

Er war lange am grübeln und glaubte schon, seine Suche erfolglos abbrechen zu müssen, als ihm plötzlich ein Licht aufging: „Seine“ Weihnachten war kein Baum, kein Ort, keine bestimmte Stube. Und „seine“Weihnachten war auch kein bestimmtes Ritual, kein Festessen, keine Weihnachtsgeschichte und auch kein Mitternachtsgottesdient. „Seine“ Weihnachten waren immer jene Menschen, die ihm am nächsten standen. Waren dies bis anhin seine Eltern und seine beiden Schwestern gewesen, so würde dieser Kreis nun einfach um seine Freundin erweitert werden.

Es machte also überhaupt keinen Unterschied, ob er den heiligen Abend in seinem Elternhaus, unter Palmen oder auf See verbringen würde. Das „wie“ und das „wo“ waren für Davids Weihnachten nicht mehr von Belangen. Das einzige was zählte, war das „mit wem“.

Und er wusste nun auch, dass Weihnachten für ihn nicht mehr nur ein Abend war, nicht mehr nur der 24. Dezember, nicht mehr nur die warme Stube in seinem Elternhaus. Er brauchte nun keinen Christbaum und keine Geschenke mehr, um das zu schätzen, was Weihnachten für ihn ausmachte. Er brauchte nun keinen speziellen Anlass mehr, um ihn an das Glück zu erinnern, das er Jahr ein Jahr aus durch seine Liebsten erfahren durfte. 

So brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, dass er dieses Jahr keine Weihnachten zustande bringen, dass Weihnachten ohne ihn stattfinden würde. Denn „seine“ Weihnachten begannen schon am selben Tag. Und er nahm sich fest vor, dass sie noch ganz lange dauern sollten. Dies nicht nur, weil er so zu ihren Ehren keine Weihnachtslieder mehr singen musste...


Ich wünsche Dir von Herzen frohe Weihnachten und gesegnete Festtage. Und wenn Dir Weihnachten bisher nichts bedeutet hat, dann solltest Du Dir vielleicht auch einmal ein paar Gedanken über dieses Fest machen. Denn auch wenn Dir Weihnachten an sich nichts sagt, ist es dennoch eine hervorragende Gelegenheit, um jenen Menschen Wertschätzung zu zeigen, die das ganze Jahr hindurch für Dich da sind.

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