Weihnachten
steht vor der Tür und zum zweiten Mal in meinem Leben werde ich es
nicht in meinem Elternhaus in Bischofszell feiern. Während es
letztes Jahr noch ziemlich gewöhnungsbedürftig war, tropische
Weihnachten fern von Zuhause zu erleben, hat sich dies mittlerweile
geändert. Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass es dieses Jahr
wiederum keine Weihnachts-“Guetzli“ geben wird, dass ich keinen
Mitternachtsgottesdienst besuchen werde und dass der heilige Abend
hier ziemlich sicher keine stille Nacht sein wird. Hier in Bali wird
Weihnachten nun halt einfach einmal mit Böllern und Feuerwerk
gefeiert – ob ich will oder nicht.
Trotz
all dieser Veränderungen blicke ich sehr entspannt auf das kommende
Weihnachtsfest. Dies liegt nicht ausschliesslich am Faktor
Gewohnheit, sondern auch an meiner neuen Einstellung. Denn als ich
mir letztes Jahr Gedanken über die Bedeutung von Weihnachten machte,
habe ich „meine“ Weihnachten gefunden. Und da meine Weihnachten
eng mit meiner Familie verbunden sind und das Erzählen von
Geschichten in meinem Elternhaus seit Jahren zum heiligen Abend
gehört, habe ich letztes Jahr für meine Liebsten meine
Weihnachtsgeschichte niedergeschrieben. Und diese will ich heute
gerne mit Euch teilen:
Nur
keine Weihnachtslieder
Kaum ein
Anlass hat sich in Davids Augen in den 30 Jahren seines Lebens so
verändert, wie Weihnachten. Die frühesten Erinnerungen, die David
an Weihnachten hat, sind ein oranges Wigwam, ein weiss-rotes BMX und
ein Blick durchs Schlüsselloch auf den Christbaum. Während erstere
zwei Geschenke waren, die bei dem Knaben einen bleibenden Eindruck
hinterliessen, war das Schlüsselloch eng mit Davids Neugier
verbunden.
Wenn die
Stube am Nachmittag des 24. Dezembers jeweils zur Sperrzone für alle
Kinder erklärt wurde, da das Christkind den Baum schmücken und die
Geschenke bringen müsse, wurde die Stube für den Jungen umso
interessanter. Nie hätte er es gewagt, trotz des Verbots in die
Stube zu treten und das Christkind bei seiner Arbeit zu stören.
Dafür war er schlicht zu gut erzogen. Und zudem zu besorgt, dass es
einen negativen Einfuss auf die Grösse und Anzahl seiner Geschenke
hätte...
Doch ein
Blick durchs Schlüsselloch war einfach zu verlockend für ihn. Nicht
nur, weil er sein wichtigstes Gebot – lass Dich nicht erwischen –
nicht in Gefahr sah, sondern auch, weil er ja eigentlich nichts
Unerlaubtes tat. Seine Mutter hatte ihm nur gesagt, er dürfe die
Stube nicht betreten; vom nicht hineinschauen war keine Rede.
Obwohl
er sich vor der Türe hin und her bewegte und das Schlüsselloch der
alten Türe ihm einen ziemlich guten Einblick in die Stube gewährte,
schaffte er es nicht, dass Christkind bei seiner Arbeit zu erwischen.
Das einzige, was er sah, waren ein paar Zweige des Christbaums und
ein halbes Dutzend roter Kugeln.
So sehr
sich David auch anstrengte, es wollte ihm einfach keine weiteren
Erinnerungen an Weihnachten in seiner frühen Kindheit in den Sinn
kommen. Dies war für ihn keineswegs ungewöhnlich, denn er erinnerte
sich allgemein nicht an viele Dinge aus seiner Kindheit. Er redete
sich ein, dass dies keineswegs aussergewöhnlich war. Denn er
glaubte, je unbeschwerter eine Kindheit war, desto weniger davon
bliebe im Bewusstsein stecken. Dass er sich an kaum etwas erinnerte,
musste also ein gutes Zeichen sein.
Wieso
aber zerbrach sich David plötzlich den Kopf über seine Beziehung zu
Weihnachten? Ganz einfach – weil er das erste Mal selbst für
Weihnachten sorgen musste. Denn als sich David nach dreissig Jahren
auf das erste Weihnachtsfest ohne seine Familie vorbereitete, merkte
er, dass er erst herausfinden musste, was Weihnachten überhaupt war.
„Was bedeutet Weihnachten für mich?“ fragte er sich je häufiger,
je näher der Festtag rückte.
Bisher
war Weihnachten etwas Selbstverständliches für ihn, etwas, das
jedes Jahr am gleichen Datum zur gleichen Zeit stattfand. Ausser dem
Finden von passenden Geschenken für seine Liebsten und kleinen
Hilfeleistungen in der Küche, war Weihnachten für David mit
keinerlei Aufwand verbunden. Seine Familie „machte“ ihm
Weihnachten. Er konnte sich einfach zurücklehnen und geniessen.
Zumindest seit Geschenke nicht mehr der Mittelpunkt von Weihnachten
waren und er keine Lieder mehr singen musste.
Als
David wohl so gegen 10 Jahre alt war, interessierte ihn an
Weihnachten nur eins: Die Geschenke. Obwohl er schon immer eine sehr
enge Beziehung zum Essen hatte und man ihm dies schon seit frühester
Kindheit ansah, wurde das Weihnachtsessen trotzdem zu einer Tortur
für ihn. Da seine Familie den Brauch hatte, an Weihnachten Fondue
Chinoise zu essen, konnte es eine gefühlte Ewigkeit dauern, bis das
Mahl beendet war.
Damit
David garantiert bereit war, wenn alle anderen satt waren, stopfte er
jeweils so viel Fleisch auf seine Chinoise-Gabel, wie diese erlaubte.
Er schmeckte das Essen überhaupt nicht, sondern schlang einfach
alles so schnell wie möglich herunter. Das einzige, woran er denken
konnte, waren seine Geschenke und wie er diese so bald wie möglich
auspacken konnte. Hatte er seine Pflicht am Essenstisch getan, sass
David ungeduldig in seinem Stuhl und konnte es kaum ertragen, wie
seine Familienmitlieder das Essen in aller Gemütlichkeit genossen.
Seine
Ungeduld war so gross, dass er seiner Mutter sogar freiwillig beim
Abräumen des Tisches half; etwas Unvorstellbares an einem normalen
Werktag. Und dies tat er, obwohl er wusste, dass das Schlimmste noch
bevorstand; das Singen von Weihnachtsliedern.
Wie er
dies hasste! Er konnte es nicht ausstehen, gemeinsam mit seinen
Eltern und seinen zwei Schwestern Weihnachtslieder zu singen. Nicht
nur, weil er ein ziemlich schlechter Sänger war und ihm die Lieder
so gar nicht gefielen. Sondern vor allem, weil er es direkt vor dem
Christbaum in Anbetracht seiner Geschenke tun musste. Für ihn wurde
das Singen so zu einer Folter. Die Objekte seiner Begierde waren in
Griffnähe und der heilige Abend hatte bereits begonnen. Dennoch
durfte er sich noch nicht auf seine Geschenke stürzen; etwas total
Unverständliches und Gemeines in Davids Augen.
Als
David sich nun Gedanken über die Bedeutung von Weihnachten machte
und sich an diese heiligen Abende in seiner Kindheit erinnerte, wurde
ihm nicht nur klar, woher seine Abneigung fürs Singen kam, sondern
auch, wie gegensätzlich seine Auffassung von Weihnachten geworden
ist. Im Erwachsenenalter wurde Weihnachten für ihn vor allem ein
gemütlicher Abend zu Hause zusammen mit seiner Familie. Gutes Essen,
feiner Wein, eine oder zwei Geschichten, Mitternachtsgottesdienst und
danach noch eins Trinken gehen mit seinen ehemaligen Schulkameraden.
Das war Weihnachten für ihn – glaubte er zumindest...
An dem
Tag, als ihm bewusst wurde, dass er solche Weihnachten nur zu Hause
in der guten Stube seines Elternhauses feiern konnte, er jedoch
während dem vor der Tür stehenden Weihnachtsfest Tausende von
Kilometern von seiner Heimat entfernt sein würde, begann er zum
ersten Mal nach der wahren Bedeutung von Weihnachten zu suchen. Nach
dem Motto „Man lernt etwas erst richtig schätzen, wenn man es
nicht mehr hat“, machte er sich auf die Suche nach „seinen“
Weihnachten.
Zuerst
dachte er, dass es wohl am besten wäre, wenn er sich auf die Suche
nach einem Christbaum machen würde. Ein paar glänzende Kugeln und
ein paar Kerzen würden schon helfen, Weihnachtsstimmung aufkommen zu
lassen. Als ihm dann aber klar wurde, dass es sich durchaus schwierig
gestalten könnte, im grösstenteils islamischen Indonesien
Weihnachtsschmuck zu finden, ganz zu schweigen von einer Tanne,
mussten „seine“ Weihnachten einen anderen Mittelpunkt haben.
Dann
glaubte er, dass sein indonesischer Freund ihm vielleicht bei der
Schaffung „seiner“ Weihnachten helfen könnte. Als er diesen
einmal an einem Sonntag treffen wollte, sagte dieser ihm ab, da er
sonntags jeweils in die Kirche gehe. So wäre es doch durchaus
möglich, dass auch in Indonesien ein Mitternachtsgottesdienst
stattfindet, dachte sich David. Als er schon im Begriff war, seinen
Freund anzurufen und nachzufragen, merkte er, dass ihn diese Lösung
nicht befriedigte. Ein Gottesdienst alleine konnte unmöglich „seine“
Weihnachten sein. Und schon gar nicht, wenn er während der Messe nur
wenige Worte verstehen würde.
Er war
lange am grübeln und glaubte schon, seine Suche erfolglos abbrechen
zu müssen, als ihm plötzlich ein Licht aufging: „Seine“
Weihnachten war kein Baum, kein Ort, keine bestimmte Stube. Und
„seine“Weihnachten war auch kein bestimmtes Ritual, kein
Festessen, keine Weihnachtsgeschichte und auch kein
Mitternachtsgottesdient. „Seine“ Weihnachten waren immer jene
Menschen, die ihm am nächsten standen. Waren dies bis anhin seine
Eltern und seine beiden Schwestern gewesen, so würde dieser Kreis
nun einfach um seine Freundin erweitert werden.
Es
machte also überhaupt keinen Unterschied, ob er den heiligen Abend
in seinem Elternhaus, unter Palmen oder auf See verbringen würde.
Das „wie“ und das „wo“ waren für Davids Weihnachten nicht
mehr von Belangen. Das einzige was zählte, war das „mit wem“.
Und er
wusste nun auch, dass Weihnachten für ihn nicht mehr nur ein Abend
war, nicht mehr nur der 24. Dezember, nicht mehr nur die warme Stube
in seinem Elternhaus. Er brauchte nun keinen Christbaum und keine
Geschenke mehr, um das zu schätzen, was Weihnachten für ihn
ausmachte. Er brauchte nun keinen speziellen Anlass mehr, um ihn an
das Glück zu erinnern, das er Jahr ein Jahr aus durch seine Liebsten
erfahren durfte.
So
brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, dass er dieses Jahr
keine Weihnachten zustande bringen, dass Weihnachten ohne ihn
stattfinden würde. Denn „seine“ Weihnachten begannen schon am
selben Tag. Und er nahm sich fest vor, dass sie noch ganz lange
dauern sollten. Dies nicht nur, weil er so zu ihren Ehren keine
Weihnachtslieder mehr singen musste...
Ich
wünsche Dir von Herzen frohe Weihnachten und gesegnete Festtage. Und
wenn Dir Weihnachten bisher nichts bedeutet hat, dann solltest Du Dir
vielleicht auch einmal ein paar Gedanken über dieses Fest machen.
Denn auch wenn Dir Weihnachten an sich nichts sagt, ist es dennoch
eine hervorragende Gelegenheit, um jenen Menschen Wertschätzung zu
zeigen, die das ganze Jahr hindurch für Dich da sind.